Am 4. Juli 2020, dem Nationalfeiertag der USA, stürzten Demonstranten in Baltimore eine Kolumbus-Statue vom Sockel und versenkten sie im Meer. Ein eindrucksvoller symbolischer Akt, mit dem die Geschichte umgeschrieben werden sollte. Das europäische Erfolgsnarrativ von der Entdeckung Amerikas wurde interpretiert als hässliche Erzählung von Unterwerfung und kolonialer Unterdrückung. Take your knee off our necks! Der Auslöser der Aktion, das Video vom Sterben George Floyds, verdichtete sich zu einem Bild, das die Kraft hatte, eine weltweite Bewegung auszulösen.
Kultur ist wirkmächtig. Kultur ist der Bereich der Bilder und Symbole, hier entstehen die Erzählungen, die als Rahmensystem den Zusammenhalt einer Gesellschaft sichern und das Handeln ihrer Mitglieder leiten. Bleibt dieses Rahmensystem unbeweglich, kann sich eine Gesellschaft nicht entwickeln. Während sich die Verhältnisse ändern, müssen alte Gewissheiten immer wieder überprüft und manchmal auch vom Sockel gestürzt werden.
Selten konnte man so unmittelbar spüren wie derzeit, dass sich bestimmte Narrative überlebt haben. Die Selbstverständlichkeit der weißen Dominanz wird fadenscheinig, die Verheißung vom immerwährenden Wachstum klingt zunehmend hohl, die glanzvolle Story von der großen Freiheit des Internets trübt sich ein, die weltweite Ungerechtigkeit schiebt sich mit immer stärkeren Bildern vor den Erfolg der Globalisierung, und dies alles vollzieht sich vor dem Hintergrund abbrechender Gletscher, steigender Meeresspiegel und brennender Wälder. Die Corona-Pandemie wirft ein Schlaglicht auf die Verletzbarkeit unserer Zivilisation und ihre dunkle Seite: die rücksichtslose Ausbeutung von Natur und Umwelt.
Zugleich aber haben die letzten Monate gezeigt, wie viel veränderbar ist, wenn man nur will. Ein Kulturwandel ist nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Wir müssen uns von der „ideologischen Gehirnwäsche unseres eigenen Zeitalters befreien“ (Tomáš Sedláček). Es ist höchste Zeit für die schon lange geforderte große Transformation: unsere Lebens- und Wirtschaftsweise muss nachhaltig werden. Dabei geht es nicht nur um die Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales. Die Kultur als vierte Dimension der Nachhaltigkeit ist unverzichtbar, sie schafft den Rahmen, in dem sich zukunftsfähiges Handeln entwickeln kann. Das Hinterfragen und Aufbrechen alter Denkmuster ist das Kerngeschäft des Kulturbereichs. Die herrschenden Narrative haben uns in eine Sackgasse geführt, mit ihrer Überhöhung von Wettbewerb, Beschleunigung, Innovation, Optimierung. Glück und Selbstverwirklichung des Menschen wurden an einen ungeheuren Aufwand an Energie und Material geknüpft, der die Lebensgrundlagen zerstört. Ein nachhaltiger Lebensstil verlangt und ermöglicht eine andere Haltung zur Welt. Corona bietet die Chance zum Richtungswechsel. Die transformative Kraft der Kultur wird uns helfen, eine neue große Zukunftserzählung zu entwerfen, ein sinnstiftendes globales Projekt, für das sich der Einsatz lohnt: ein gutes Leben für alle auf unserem Planeten.