Was ist Kultur? Was ist Kunst? – Lassen wir solche Fragen im Sinn von klaren Definitionsversuchen. Sie scheitern. Das weiß auch längst die wissenschaftliche Zunft. Aber Kultur und Kunst – als besonderer Artikulationsraum von Kultur mit hohem Aufmerksamkeitsappeal – lassen sich nützlich und weniger nützlich beschreiben.
Ein solcher Beschreibungsversuch muss nicht allumfassend ausfallen, sondern akzentuiert Signifikantes und augenblicklich Relevantes. Nützlich scheint ein Beschreibungsversuch zu sein, der auf Kulturpolitik im weitestgehenden Sinn hinausläuft, also als Frage nach der Humanität dienlichen Entscheidungen (Richard Rorty), die mit, durch und in der Kultur getroffen (oder unterlassen) werden.
In diesem Blickwinkel rücken zwei Aspekte des Kulturellen besonders in den Vordergrund, und zwar die Aspekte der Kraft und der Entwicklung. Fangen wir mit der zweiten Dimension an.
(1) Im Feld der Kultur und mittels ihre Produkte – ob Alltagskultur, neue Kulturindustrie oder Kunst – entwickelt sich eine Gesellschaft insgesamt in ihrer Orientierung und Selbstdeutung. Kultur und Kunst sind die Antriebsriemen einer Gesellschaft, längst nicht im Gegensatz zu Wirtschaft, zum Arbeitsund Beziehungsleben. Diese Entwicklung vollzieht sich in Schüben, stottert und springt.
(2) Der Einzelne entwickelt sich aber auch selbst in der Teilhabe an Kultur. Lesend, hörend, tanzend, musizierend – als produktiver Rezipient, Nutzer und Mitakteur in und mit welchen kulturellen Praktiken auch immer. In diesem ist die kulturelle und künstlerische Auseinandersetzung ein Ermutigungsmittel und schafft Identität und Kohärenz. Dies geschieht im Augenblick einerseits in bisher noch nicht gekanntem Maße, andererseits scheinbar wenig registriert und ermutigt durch die offizielle Kulturpolitik trotz eines scheinbaren Konsens und kluger Grundsatzpapiere.
(3) In einem dritten Sinn verpflichtet etwas, das so sehr das Entwickeln individuell und kollektiv vorantreibt wie Kultur und Kunst, zu Entwicklungsförderung und -investition. Entwickeln heißt dann, Kultur zu fördern, zu stützen, zu professionalisieren, in sie zu investieren, Settings für Kulturentwicklungsoptionen zu formulieren und zu entwerfen, ja und auch: sie professionell und originell zu vermarkten und für sie
und mit ihr zu werben. Unsere zweite Beschreibungsgröße war die Kraft. Die physikalische Analogie sollte durchaus ernst genommen werden. Kraft und Energie des Kulturellen und Künstlerischen verschaffen einer Gesellschaft und ihren Gruppierungen Schubkraft. Mittels der Entwicklungskraft
Kultur verschieben sich ganze Felder und Ströme in einer Gesellschaft und erhöhen ihre Vielfalt. Das mentale Programm einer Gesellschaft formiert sich durch kulturelle Entwicklungslinien und ihre Teilhabe immer wieder neu. Deshalb besitzt Kultur eine Transformationskraft, weil sie über den Weg des Symbolischen, der Zeichen, der Töne und Gesten, der Visionen und Bilder Berge versetzen hilft. Seit den 1960er Jahre vermag dies besonders die Popkultur; seit einem Jahrzehnt die omnipräsente Kunstszene.
Kraft, therapeutische sogar, besitzen Kunst und ihre Aneignung und Rezeption aber auch im gegenläufigen Sinn. Kunst beruhigt auch. Das war ihr bürgerliches Credo und Kontemplation war ihr Rezeptionsmittel. Irritation und Innovation mögen im Verheißungsprogramm der Kunst an vorderster Stelle stehen, Wiederholung und Affirmation – dieser gute alte philisterhafte Kunstgenuss – sind immer noch Begleiter nicht nur eines Opern- und Galeriebesuchs, sondern auch der kritischen Privatlektüre. Warum auch nicht.
Die physikalische Analogie sollte durchaus ernst genommen werden. Kraft und Energie des Kulturellen und Künstlerischen verschaffen einer Gesellschaft und ihren Gruppierungen Schubkraft.
Aber programmatisch und damit kulturpolitisch geht es um Entscheidungen. Für diese könnte es leitend sein, mit Dirk Baecker Kultur als Einspruch gegen das Diktat des Entweder-Oder, dem wir aufgrund unserer Unterscheidungen und Selektionen ständig unterworfen sind, zu sehen. Kulturelle Artefakte und Geschichten, die sich in verschiedensten kulturellen Feldern artikulieren, kommen zwar aus den Unterscheidungen (cool/uncool; authentisch/künstlich; erhaben/realistisch; gegenwartsorientiert/traditionsorientiert; e-kulturell/u-kulturell; global/lokal etc.) letztlich auch nicht heraus. Sie probieren, entwerfen und artikulieren aber etwas ‚Drittes’ jenseits des Entweder- Oder. Dieses Dritte tritt unrein auf, es ist etwas Durchmischtes und mischt sich ein. Es wagt Kontextwechsel, bringt etwas auf die Bühne, auf die Leinwand, ins Museum, in den öffentlichen Raum, auf die Straße, was zuvor dort nicht vorkam oder definierter genutzt worden ist (Duchamps Urinal oder Flaschentrockner; die Sicherheitsnadeln der Punks, Coltranes freie Improvisationen, Kafkas irritierende Verwandlungserzählungen, John Cage Langzeitkomposition für den Halberstädter Dom etc.). In diesem Aufzeigen, Inszenieren und Artikulieren von Drittem, Hybridem und Unreinem besteht vor allem die Entwicklungskraft der Kultur. Im Rücken dieser Kraft und dank der Erfahrung, die die Rezipienten und Nutzer mit dieser Kraft der Kultur machen, kann Kultur zum Transformationsriemen für veränderte Werte, Einstellungen, Haltungen werden, die sich dann über die Grenzen des im engeren Sinn kulturellen Feldes (Kunst und ihre Genres, Alltagstagskultur) ausbreiten und in den betrieblichen Alltag, in die Politik und in die Medien eindringen.
Ein solches Kulturverständnis begreift dann die kulturellen Artefakte in zwei Richtungen: Sie artikulieren, wie Diederichsen sagt, ein Versprechen (von etwas Drittem, Freien, Neuen u.ä.) und ein Vertreten (von Interessen, von Macht, von Marginalisierten). Es geht also stets auch um Repräsentationen. Will man die Entwicklungskraft der Kultur stärken, bedeutet dies, diejenigen Kräfte und Kulturmarken zu stärken, denen das Potenzial von Ermächtigung, von Partizipation und Professionalität innewohnt. Kulturmanagement wäre in diesem Sinn vielmehr als bisher Kulturentwicklungsmanagement, würde die kulturelle Seite viel stärker artikulieren helfen und sich nicht auf Planung, Führung, Controlling und Marketing beschränken, sondern Kultur + Management als gemeinsame Entwicklungsaufgabe zusammenbringen.
Dies umso mehr, als der stark erweiterte Kulturbegriff der letzten Jahrzehnte (seit den 1970er Jahren) das Feld des Kulturellen immens vergrößert und ausdifferenziert hat, so dass aber in der Folge eine Förderung der Kulturarbeit allein über Mittel der öffentlichen Hand längst nicht mehr ausreichend ist. Deshalb geht es beim Dialog von Wirtschaft und Kultur um eine Doppelrichtung: was lernt die eine Seite von der anderen und was verschiebt sich beim Transfer von einem Feld in das andere?
Will man die Entwicklungskraft der Kultur stärken, bedeutet dies, diejenigen Kräfte und Kulturmarken zu stärken, denen das Potenzial von Ermächtigung, von Partizipation und Professionalität innewohnt.
Es geht also auch im Feld des Kulturellen um Energien, von denen der Kunst- und Kulturtheoretiker Aby Warburg beim Transport von Tradition in Gegenwart und Zukunft gesprochen hat. Was im Theater, in der Literatur, in der Musik, in der Bildenden Kunst, in der Alltagskultur, in der urban culture oder visual culture kulturell erzeugt und rezipiert wird, lässt sich als zirkulierende, kommunikative oder wilde Energien, die in einer Gesellschaft artikuliert sind, begreifen.
Was kursiert? lautet die erste Frage. Was ist diesen Energien als Bedingungen unterlegt? – das ist die Dimension der Werte und der Programmatiken hinter den Artefakten und Geschichten. Die dritte Dimension der kulturellen Praktiken fragt: Was machen die Leute damit? Die vierte Dimension, die der Kontexte, fragt: Wodurch sind die Energien, Artefakte und Geschichten gerahmt? Schlussendlich prüft die fünfte Dimension, die der Repräsentationen: Wen oder was repräsentieren die kulturellen Artikulationen und was lassen sie weg – also die Frage der Vertretung?
Zusammengefasst lassen sich diese Dimensionen kulturellen Versprechens und Vertretens als ein Kontroll- und Planungsinstrument lesen, wenn man
Kultur als Entwicklungskraft stark machen will.