Das Migros-Kulturprozent ist einer der grössten privaten Kulturförderer der Schweiz und engagiert sich in dieser Rolle auch im sozialen Bereich. Ramona Giarraputo leitet seit Herbst 2014 den Bereich Soziales. Unter ihrer Führung wurde eine neue Strategie entwickelt. Gemeinsam mit Hedy Graber, Leiterin der Direktion Kultur und Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund in Zürich, erklärt sie im Gespräch, welche Überlegungen zur neuen Ausrichtung führten und was sich damit ändert.
Die meisten Menschen dürften, wenn sie «Migros-Kulturprozent» hören, spontan an die Förderung von Künstlern und die Unterstützung kultureller Veranstaltungen denken, aber nicht unbedingt an soziales Engagement. Welche Rolle spielt das Soziale beim Migros-Kulturprozent?
Hedy Graber: Der Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler hat in seinen Thesen, die er 1950 gemeinsam mit seiner Frau Adele formulierte, schon gesagt: «Das Allgemeininteresse muss höher gestellt werden als das Migros-Genossenschafts-Interesse…» und «Wir müssen wachsender eigener materieller Macht stets noch grössere soziale und kulturelle Leistungen zur Seite stellen.» Darauf berufen wir uns mit dem Migros-Kulturprozent auch heute noch.
Findet denn ein Austausch zwischen den beiden Bereichen statt?
Ramona Giarraputo: Ja, wir erleben das im Alltag so. Generell sehen wir, dass die Komplexität der gesellschaftlichen Fragestellungen in allen Bereichen zunimmt und Fragestellungen nicht mehr nur aus einer Perspektive gelöst werden können. So greifen auch die Bereiche Soziales und Kultur ineinander. Wir erhalten auch immer mehr Gesuche, die sich an der Schnittstelle von Kultur und Sozialem bewegen – und das ist gut so. Entsprechend wird unsere Arbeit immer interdisziplinärer. Beim Projekt ästhetische Teilhabe und kulturelle Bildung, das wir im Herbst 2017 lancieren, geht es um Kreativitätsförderung in der frühen Kindheit. Das ist einerseits ein klassisches soziales Projekt, bei dem die frühkindliche Förderung im Zentrum steht. Ebenso wichtig ist aber, die Kinder an verschiedene Kultursparten heranzuführen. Ähnlich wie bei unseren Generationenprojekten in Museen, bei denen ältere Menschen mit jüngeren ein Museum besuchen und der intergenerationelle Austausch stattfindet – da sind beide Bereiche eng miteinander verbunden.
Sind Sie diesbezüglich als Institution, die seit jeher kulturell und sozial tätig ist, im Vorteil?
Hedy Graber: Ich denke sogar, dass das eine unserer grossen Stärken ist. Meine Kolleginnen und Kollegen aus der Kultur und aus dem Bereich Soziales arbeiten alle auf demselben Stock. Hier ist sehr viel Kompetenz vereint. Wenn Ramona Giarraputo ein Projekt initiieren will oder ein Gesuch beurteilen muss, in dem es zum Beispiel um Theater oder Tanz geht, muss sie nur das Grossraumbüro durchqueren.
Ramona Giarraputo: Für mich ist das ein grosser Unterschied zu meiner früheren Arbeit. Ich war vorher beim Kanton St. Gallen im Bereich Integration und Gleichstellung tätig, und in der Verwaltung ist es aufgrund der Organisation generell schwieriger, spartenübergreifend zu arbeiten. Beim Migros-Kulturprozent sind die Wege dagegen extrem kurz – im übertragenen wie im wörtlichen Sinne.
Der Bereich Soziales hat 2016 eine neue Strategie entwickelt. Warum war das überhaupt nötig?
Hedy Graber: Die Gesellschaft verändert sich rasant und entsprechend auch die Themen. Globalisierung, Digitalisierung, demografischer Wandel und Migration – das sind Bereiche, in denen ganz viel im Umbruch ist. Wir verstehen uns als Impulsgeber. Diesem Anspruch können aber wir nur gerecht werden, wenn wir immer à jour bleiben und fortlaufend überprüfen, ob die Themen, die wir behandeln, noch aktuell sind.
Was sind denn die grössten Veränderungen in der neuen Strategie?
Ramona Giarraputo: Ganz allgemein versuchen wir noch mehr, von starren Kategorien wegzukommen. Wir hatten früher die vier Sparten Migration, Generationen, Gesundheit sowie Arbeit und Zivilgesellschaft. Das sind nach wie vor wichtige Bereiche, in der neuen Strategie gehen wir aber nicht mehr primär von Sparten, sondern von sechs übergeordneten Themen aus, die breiter und offener formuliert sind. Zum Beispiel sprechen wir nicht mehr nur von Migration, sondern vom Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft. Migration stellt dabei nach wie vor einen wichtigen Aspekt dar, aber es kommt noch mehr dazu. Es geht zum Beispiel auch um Generationenbeziehungen und um neue Familienmodelle. Ähnlich beim zivilgesellschaftlichen Engagement: In diesem Bereich sind wir schon länger tätig; gerade hier ist jedoch vieles in Bewegung. So entstehen neue Formen des gesellschaftlichen Engagements. Man muss heute nicht immer einen Verein gründen und sich alle zwei Wochen zur Vorstandssitzung treffen, wenn man etwas vor Ort bewirken will. Vieles ist auch online von zu Hause aus möglich. Und ganz viel freiwilliges Engagement findet informell statt. Einer unserer Schwerpunkte ist, dass wir untersuchen, welche Rahmenbedingungen gegeben sein müssen, damit die Zivilgesellschaft von heute fit für die Zukunft wird.
Gesellschaftliches Engagement ist ein riesiges Thema. Was können Sie hier konkret bewirken?
Ramona Giarraputo: Indem wir neben konkreten Modellvorhaben den Diskurs lancieren, können wir viel in Gang setzen. Zivilgesellschaft ist ein wichtiges Thema, das auch in der Schweizer Bundesverfassung explizit erwähnt wird. Es gibt aber keine Stelle, kein Amt, das sich explizit darum kümmert. In diese Lücke springen wir als Migros-Kulturprozent. Denn wenn wir es nicht tun, tut es niemand. Das politische, soziale und kulturelle Modell der Schweiz basiert auf der Verantwortungsübernahme der Bevölkerung im Rahmen ihrer Möglichkeiten und ihrer Beteiligung an der Gemeinschaft.
Hedy Graber: Als neutraler Akteur können wir alle Betroffenen – NGOs, die öffentliche Hand, andere Institutionen – an einen Tisch bringen. Wir bieten eine Plattform und übernehmen damit eine Rolle, die sonst kaum jemand ausfüllen kann.
Ein anderes Thema ist «Quartier und Dorf als Ort der Begegnung». Was muss man sich darunter vorstellen?
Hedy Graber: Zur Globalisierung und Urbanisierung beobachten wir einen Gegentrend – die Rückkehr zum Kleinen, Lokalen. Viele Leute wollen wieder dort aktiv werden, wo sie wirklich etwas bewegen können, im Quartier, in der Nachbarschaft. Deshalb möchten wir Projekte lancieren, die den Dialog ermöglichen und die Lebensqualität fördern, etwa in der Form von Nachbarschaftsnetzwerken.
Ramona Giarraputo: Bei der neuen Strategie ist uns wichtig, dass die sechs Leitthemen ineinandergreifen. So bildet zivilgesellschaftliches Engagement zwar einen eigenen Themenbereich, zugleich handelt es sich dabei um einen Aspekt, der für alle unsere Projekte von integraler Bedeutung ist. Wir arbeiten fast immer mit Freiwilligen zusammen, das zivilgesellschaftliche Engagement lässt sich gar nicht wegdenken. Ähnlich verhält es sich mit dem Themenbereich «Für eine neue und offene Lernkultur». Einer unserer Grundsätze dabei ist, dass unsere Projekte öffentlich zugänglich sein müssen, wie man das zum Beispiel in der Informatik mit Open-Source-Lösungen kennt. Alle Informationen sind frei auf dem Netz verfügbar, sodass jeder sie übernehmen kann. Zudem versuchen wir, quasi lernfähige Projekte zu entwickeln. Etwa, indem wir Pilotprojekte lancieren und dann vor Ort schauen, wie die Leute darauf reagieren und was sich verbessern lässt. Diesen Lernprozess gilt es dann zu dokumentieren und weiterzuverbreiten.
Wie gestaltet sich Ihre Zusammenarbeit mit der öffentlichen Hand?
Hedy Graber: Wir vom Migros-Kulturprozent sehen unsere Rolle klar als ergänzend. Das heisst, wir sind dort tätig, wo es noch keine politische Strategie gibt, wo Gemeinden oder der Bund nicht oder erst in Ansätzen aktiv sind. Zum Beispiel bei den Generationenprojekten: In diesem Bereich wird zwar viel gemacht und die Gemeinden sind am Thema dran, aber eine kohärente nationale Strategie fehlt. Also treiben wir mit unseren Projektleitenden das Thema voran.
Ramona Giarraputo: Ein anderes Beispiel ist unser Angebot conTAKT-net. Hier sollen Migrantinnen und Migranten auf der Website ihrer Wohngemeinde Informationen finden, die ihnen die Orientierung und die Integration erleichtern. Gemäss Gesetz haben die Gemeinden in der Schweiz einen Informationsauftrag, oft fehlt es aber an Know-how oder an Ressourcen, um diesem auch nachzukommen. Deshalb haben wir vom Migros-Kulturprozent eine Musterwebsite entwickelt, die die Gemeinden übernehmen können.
Wird dieses Angebot genutzt?
Ramona Giarraputo: Und wie! Unzählige Gemeinden und Kantone aus der ganzen Schweiz haben unser Modell übernommen. Oft kriegen wir das gar nicht mit. Das Material ist online verfügbar, und jeder kann darauf zugreifen, ohne uns zu informieren. Das ist auch vollkommen richtig so. Uns geht es nicht darum, dass überall «Migros-Kulturprozent» draufsteht, sondern dass das Angebot genutzt wird.
Wie kommt ein Projekt typischerweise zustande? Tritt ein Akteur – zum Beispiel der Bund, eine NGO – mit einem Anliegen an Sie heran, oder werden Sie aufgrund eigener Analysen aktiv?
Ramona Giarraputo: Es gibt beide Varianten – und unzählige Abstufungen dazwischen. In jedem Fall gehen wir immer von einer fundierten Analyse, von wissenschaftlich erhobenen Daten aus. Bei conTAKT.net etwa kamen wir selbst zum Schluss, dass es dieses Angebot braucht, und gingen dann auf die Behörden zu. Aber es gibt auch den gegenteiligen Fall: Eine Organisation fragt uns an, ob wir bei einem bestimmten Thema nicht mit ihnen zusammenarbeiten wollen. Natürlich müssen wir dann ebenfalls der Ansicht sein, dass Handlungsbedarf besteht. Zudem muss das Anliegen einem echten gesellschaftlichen Bedarf entsprechen und in unsere Strategie passen.
Kooperationen sind für uns insgesamt sehr wichtig. Wir brauchen Partner, mit denen wir zusammenarbeiten können. Wenn wir in einem bestimmten Bereich Handlungsbedarf sehen, dann überlegen wir uns immer, mit wem wir das umsetzen können.
Werden Sie gehört, wenn Sie auf eine Institution oder eine Behörde zugehen?
Hedy Graber: Ich glaube, das kann ich guten Gewissens bejahen. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind ausgewiesene Fachpersonen und extrem gut vernetzt, ihre Stimmen haben in den jeweiligen Fachkreisen Gewicht. Wir wissen normalerweise sehr genau, was gerade läuft und wo der Schuh drückt. Entsprechend nimmt man uns auch ernst.
In Ihren neuen Leitlinien ist explizit festgehalten, dass ein Projekt ein Anfang und ein Ende haben muss. Sie wollen keine Open-End-Angebote.
Ramona Giarraputo: Das ist richtig. Wir verstehen unsere Rolle im Sinne unserer neuen Strategie noch deutlicher als Impulsgeberin. Deshalb ist es uns wichtig, dass wir flexibel bleiben. Das heisst, wir wollen nicht alle Ressourcen binden, sondern immer die Möglichkeit haben, kurzfristig auf neue Entwicklungen zu reagieren. Allerdings muss man sich im Klaren sein, dass soziale Projekte normalerweise einen langen Zeithorizont haben. Wir sprechen von Laufzeiten von fünf bis zehn Jahren. Das ist nötig, wenn man gemeinsam mit anderen Leuten Netzwerke aufbauen will. Unser Ziel ist, zusammen mit unseren Kooperationspartnern etwas zu entwickeln, das ab einem bestimmten Zeitpunkt selbstorganisiert funktionieren kann. Beispielsweise Tavolata: Das sind Mittagstische für ältere Menschen. Es ist erwiesen, dass man sich gesünder ernährt, wenn man Mahlzeiten gemeinsam zubereitet und einnimmt. Wer alleine isst, macht sich oft nicht die Mühe, etwas Gesundes zu kochen. Zudem wirken sich soziale Kontakte positiv auf die körperliche Gesundheit aus. Deshalb sind Mittagstische eine sinnvolle Sache. Diese Tafelrunden werden aber nicht von uns organisiert; wir sorgen vielmehr für die Rahmenbedingungen, wir ermöglichen Selbstorganisation. Mittlerweile finden in der ganzen Schweiz über 300 Tavolatas statt und noch viele mehr, ohne dass wir davon etwas mitbekommen.
Hedy Graber: Dass wir Projekte abbrechen, kommt eigentlich nicht vor. Was es aber sehr wohl gibt, ist, dass wir ein Projekt in die Unabhängigkeit entlassen. Das geschieht, wenn wir sehen, dass es uns nicht mehr braucht. Oft wollen die Beteiligten selbst mehr Autonomie und gründen dann einen Verein, der die Trägerschaft übernimmt. Das ist im Grunde das Höchste der Gefühle, denn es zeigt, dass wirklich ein Bedürfnis für dieses Angebot besteht.
Ramona Giarraputo: Man muss sich freilich bewusst sein, dass die Überführung in die Unabhängigkeit nicht von heute auf morgen geschieht, sondern einen eigenen Prozess darstellt, der gut und gerne ein, zwei Jahre dauern kann. Denn die Tatsache, dass ein Projekt funktioniert, dass ein Angebot wahrgenommen wird, heisst nicht, dass es auch auf eigenen Füssen stehen kann. Dazu braucht es entsprechende Strukturen, die man zuerst etablieren muss. Wenn wir uns zu schnell zurückziehen, besteht die Gefahr, dass die ganze Sache kollabiert. Das wäre nicht im Sinne der Nachhaltigkeit.
Im Idealfall steigen Sie also irgendwann mal aus dem Projekt aus?
Ramona Giarraputo: Ja, allerdings gibt es auch Fälle, in denen das nicht ohne weiteres geht. Etwa dort, wo es keine Akteure gibt, die das Thema oder das Projekt übernehmen können oder wollen, weil es keine Zuständigkeiten gibt. Oder im Falle von Projekten, die sich aufgrund ihres Erfolgs mittlerweile als Fachstellen national etabliert haben. Das ist bei uns vitamin B, eine Fachstelle, die gemeinnützige Vereine kostenlos berät und Weiterbildungskurse anbietet. Bei vitamin B sind wir seit 17 Jahren engagiert, weil es nach wie vor keine andere Stelle in der Schweiz gibt, die etwas Entsprechendes leisten würde. Ohne uns gäbe es vitamin B nicht mehr. Weil wir aber sehen, dass dieses Angebot rege genutzt wird, dass es ganz offensichtlich einem Bedürfnis entspricht, unterstützen wir es weiterhin.
Hand aufs Herz – haben Sie schon Projekte lanciert, die sich als echte Misserfolge entpuppt haben?
Ramona Giarraputo: Natürlich kann es vorkommen, dass wir zu einer Tagung einladen, zu der sich dann weniger Leute anmelden, als wir erwartet haben – etwa, weil das Thema schlicht noch zu wenig bekannt ist. Aber meist erleben wir das Gegenteil: Beispielsweise haben wir kürzlich zu einem Expertenworkshop zum Thema Caring Community eingeladen. Es gab 20 Plätze, wir erhielten aber ein Vielfaches an Anmeldungen. Ein deutliches Zeichen, dass an diesem Thema etwas dran ist.
Frau Giarraputo, Sie betreuen sehr viele Projekte unterschiedlicher Grösse, ein regelrechter Gemischtwarenladen. Wie erleben Sie diese Vielfalt?
Ramona Giarraputo: Da gilt es zwei Dinge zu unterscheiden: Thematisch gesehen sind wir definitiv kein Gemischtwarenladen; mit unseren Leitthemen haben wir uns inhaltlich noch mehr profiliert. Hingegen haben wir bei der Entwicklung und Durchführung der Projekte kein «One size fit»-Modell bzw., wir machen keine Standardlösungen oder Standartprojekte. Das ist auch nicht zielführend bei komplexen gesellschaftlichen Fragestellungen, wie wir sie heute kennen. Natürlich ist es sehr anspruchsvoll, weil wir von kleinen Projekten bis zu ganz grossen Kisten alles machen – aber genau das ist eben unsere Stärke. Wir suchen von Fall zu Fall und gemeinsam mit unseren Partnern Lösungen, die wir dann Schritt für Schritt entwickeln. Das ist anspruchsvoll, und das Tempo ist sehr hoch, aber ich glaube, dass wir letztlich nur so etwas bewirken können.