Der Kultursektor hat ein besonderes Jahr hinter sich: Betroffen von einem permanenten Wechselspiel zaghafter Öffnungen und radikaler Schließungen, finanzieller Einbußen und unsicheren Perspektiven. Gut beraten waren zunächst diejenigen Kultureinrichtungen, die zu Beginn der Krise schnell selbst aktiv werden konnten oder über ausreichende Budgets verfügten, ihr Schaffen ins Digitale zu überführen. Dennoch reichten die digitalen Angebote nur selten über das bloße Abbilden und Nacherzählen hinaus. In der Krise machte sich bemerkbar, dass im letzten Jahrzehnt zu wenig Zeit und Innovationskraft in die Entwicklung neuer Erzählformen, künstlerischer Produktionen und Vermittlungsprogramme gesteckt wurde. In den (hoffentlich) letzten Tagen der Pandemie lässt sich konstatieren, dass sich Digitalität nicht allein in der Logik eines Live-Streams einlöst, und es einem grundlegenden Verständnis und einer Haltung bedarf, die Ideen der Solidarität, Gemeinschaftlichkeit und Bildung als Aufgabe der Kulturinstitution verknüpft. Statt Gegensätze wie analog-digital, Kultur-Kommerz, Individuum-Gesellschaft, Bildung-Unterhaltung weiter zu befestigen, benötigen wir ein anderes Kulturverständnis und konkrete Werkzeuge, um zwischen den Polen zu navigieren.
Von einer Experten-Strategie zum ganzheitlichen Business Plan
Der Begriff der Digitalität greift tiefer, meint er doch nach Felix Stalder die Verschränkung der vormals analogen mit der digitalen Welt, in einer Weise, in der sich Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Umwelt aufs Vielfältige neu sortieren. Es ändern sich ihre kommunikativen und performativen Beziehungen zu einander ebenso wie die Kontexte der Produktion und Nutzung von Dingen. (Vgl. Stalder 2017:21)
Zugleich hat das zurückliegende Jahr gezeigt, dass von langer Hand entwickelte (Digital-)Strategien nicht mehr auf die Komplexität und das vielschichtige Entwicklungstempo unserer Gesellschaft passen. Sie müssten vielmehr kurzfristiger und situativer angepasst werden können, im Grund genommen sogar von selbst anpassungsfähig sein. Um es auf den Punkt zu bringen: Wer vor der Krise noch keine Digitale Strategie hatte, sollte sich nun erst recht nicht mehr damit beschäftigen. Vielmehr müssen wir uns fragen, wie (digitale) Transformationsprozesse auf das System - in unserem Fall die “Kultur” - wirken und wie sich dadurch unsere Strukturen nachhaltig verändern müssen.
Digitalität als transformative Kraft richtet sich dabei sowohl nach innen mit Blick auf Personal, Fachlichkeit, Prozesse und Produktionslogiken als auch nach "außen" an ein Publikum und eine Stadtgesellschaft sowie den politischen Raum. Digitalität muss als bewusste Gestaltungskomponente betrachtet werden, die sich auf all diese Dimensionen und Beziehungen auswirkt und sie verändert.
Kollaboration und Ko-Kreation: Das Wittener Modell der (digitalen) Transformation
Zur (digitalen) Reorganisation unserer kulturellen Infrastruktur ist daher das Erlernen von von Innovation als Metakompetenz essentiell. Sie versetzt in die Lage, auf kurzfristige Veränderungen konstruktiv zu reagieren, statt an einem starren Fahrplan festzuhalten. Dies erfordert eine nachhaltige Veränderung der Arbeits- und Organisationskultur. Wie also lernen wir mit unseren bestehenden Systemen neu zu arbeiten und in unseren “alten” Strukturen Wandel denkbar und gestaltbar zu ermöglichen?
Im Dezember 2019 haben wir im Kulturforum Witten ein fortlaufendes Programm zum Capacity Building ins Leben gerufen, mit dem wir unsere Kolleg:innen aus den unterschiedlichsten Abteilungen darin befähigen, gemeinsam neue kollaborative Formen der Zusammenarbeit auf Augenhöhe und mit der lokalen Stadtgesellschaft zu erproben. Es ist eine Artspielerischer Experimentalraum für Potenzialentwicklung geschaffen worden mit dem Ziel des “behaviour and mind-set change”. Der gewählte Ansatz greift Prinzipien digitaler Arbeits- und Entwicklungsweisen auf und wendet sie auf alltägliche Prozesse des Kultursektors an. Schnell wurden bereits zu Beginn erste Veränderungen und Ergebnisse in den Arbeitsprozessen und Produktionsweisen auf allen Seiten sichtbar. Die Teams innerhalb des Kulturforums arbeiten eigeninitiativer zusammen und öffnen stärker die eigenen Produktionskontexte. Desweiteren konnte bereits jetzt eine positive Fehlerkultur etabliert werden, die in Folge zu immer mutigeren Experimenten und neuen innovativen Formaten führte.
Das Kulturforum Witten 2022
Freigesetzte Gestaltungsmacht und innovative Experimente sind wichtige Gelingensbedingung der Transformation. Verantwortung hierfür tragen im Prinzip alle Mitarbeiter:innen. Für den nachhaltigen, systemischen Wandel müssen alle jedoch die Phase des agilen Prototypings überwinden und diese in die auf längere Sicht angelegten Prinzipien der Organisation, Programmatik und letztlich Finanzierung übertragen werden. Es bedarf daher zukünftig dauerhafter innovationsfördernder Strukturen innerhalb der Organisation.
Die 2021 eingerichtete Stabsstelle für Digitale Transformation unterstützt die Implementierung des neuen Denkens und Handelns und sichert in unserem Betrieb die Anschlussfähigkeit nach innen; sie ermutigt und motiviert und setzt sich neben der konkreten Projektentwicklung - mit einem kritischen Blick ins Innere der Organisation - für übergreifende infrastrukturelle Investitionen und Maßnahmen des Capacity Buildings ein.
Neben der (infra)strukturellen Neuorganisation bedarf es auch einer Visionskraft mit breiter Anschlussfähigkeit. In Hinblick auf die mittelfristige Entwicklung haben wir uns nicht nur an einer Stelle, sondern im gesamten Betrieb entschieden, das Kulturforum Witten nach der “obersten” Rahmung der UN SDGs (“Sustainable Development Goals”) der UN Charta 2030 auszurichten.
Die Nachhaltigkeitsziele “hochwertige Bildung” (UN SDG 4), "nachhaltige Städte und Gemeinden” (UN SDG 11) und “Maßnahmen zum Klimaschutz” (UN DSG 13) bieten aus unserer Sicht Anschlussfähigkeit, den nötigen Freiraum und sind gleichzeitig konkret genug, so dass jede/r sie in ihr/sein Tun integrieren kann. Sie helfen uns, unser Geschäftsmodell nachhaltig auszurichten und letztlich in einen politischen Prozess zu übersetzen. Digitalität ist dabei nicht losgelöster Teil von etwas (im Sinne einer Digitalen Strategie), sondern schlicht allgegenwärtig, verweist auf globale Zusammenhänge und durchzieht die gesamte Organisation.
Wir erlernen und verfeinern jeden Tag einen praxisorientierten Ansatz zur Neuausrichtung in Zeiten der Digitalität. Für den Kultursektor und insbesondere Kulturverwaltungen mittlerer Größe kann dieser als Blaupause für zukünftige Geschäfts- und Steuerungsmodelle in Deutschland dienen.
Literatur
Stalder, Felix (2017): Kultur der Digitalität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.