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Fachbeitrag

Die Europäische Union – eine schlechte Kulturmarke?

Es mag zunächst befremdlich anmuten, wenn die Europäische Union als Kulturmarke betrachtet wird. Ich finde jedoch einen profanen Marketingblick ganz hilfreich, um die gegenwärtigen Identitäts- und Akzeptanzprobleme der Union zu verstehen. Er fokussiert sich auf das Gesamtbild, das die EU von sich vermittelt – aber damit auch auf die Stimmigkeit ihrer Strukturen und ihres Handelns.

Identitäts- und Akzeptanzprobleme von politischen Systemen werden gerne mit grundlegenden Werten, Verständnisse und Orientierungen, wie christliche Werte, Patriotismus, Solidarität, Gleichheit oder individuelle Freiheit in Verbindung gebracht. Aber das ist irreführend. Die modernen westlichen Gesellschaften sind viel zu offen, diversifiziert und vielschichtig als dass man sie noch als Gemeinschaften von Werten, Kultur und Interessen verstehen kann. Tiefgreifende Konflikte über Werte, zum Beispiel zwischen christlichen und säkularen Werten, zwischen liberalen und autoritären politischen Kulturen oder zwischen Nationalisten und Europäern gehören längst zum Alltag der europäischen Länder und natürlich auch der EU und sind zudem kurzfristig nicht lösbar. Sie sind Teil der Identität der westlichen Gesellschaften, die man ja deshalb ja auch als pluralistische Gesellschaften bezeichnet. Das gleiche gilt noch viel mehr für Interessenkonflikte.

Das Markenkonzept hebt auf etwas ganz anderes, viel Profaneres ab, nämlich auf das Bild von Produkten, Unternehmen, Organisationen und Orten, das durch die alltäglichen Erfahrungen und Kommunikation von Menschen gebildet wird und sich allmählich verselbständigt. Ein Marke ist ein unverwechselbares positives Image eines Objektes, also etwa eines Produktes oder einer Region, mit dem sich dieses von konkurrierenden Objekten unterscheidet. In diesem Sinne wäre also die Marke EU ein positives Image mit dem sich diese bei Bürgerinnen und Bürger von Nationalstaaten oder bei Investoren und kreativen Menschen von anderen Staaten abhebt.

Die EU ist jedoch nicht nur eine Marke, wie etwa ein Unternehmen, sondern wirklich eine Kulturmarke. Sie ist ein großes kulturelles Projekt der Bildung einer Nation jenseits der Nationalstaaten. Sie startete als eine große Idee eines friedlichen, vielfältigen, toleranten und solidarischen Europas. Ihre ideologische Grundlage war die europäische Aufklärung und der kontinentaleuropäische Liberalismus. Das Projekt EU war getragen von dem Narrativ eines zusammenwachsenden Europas, das durch politische Integration an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit gewinnt, seinen Bewohnern einen hohen Lebensstandard bieten kann und sich dadurch dem großen Ziel der politischen Integration weiter nähert. Zu diesem Projekt gehörte auch eine spezifische politische Konsenskultur – die politischen Eliten Europas gestalten eine starke Union im Konsens.

Im Nachkriegseuropa stieß dieses Projekt in Westeuropa auf viel Zustimmung obwohl es in Konkurrenz zu der politischen Kulturmarke der Jahre davor stand, dem Nationalstaat. Aber die politische Kulturmarke Nationalstaat war korrumpiert durch zwei Weltkriege. Ihr politischer, wirtschaftlicher, sozialer und nicht zuletzt kultureller Erfolg hat die Kulturmarke Europäische Union zunächst stark gemacht – trotz mancher Probleme und einiger Kritik an der europäischen Bürokratie war die EU in Westeuropa weitgehend selbstverständlich geworden.

Das veränderte sich mit der Erweiterung der EU und ihrer Kompetenzen jedoch schleichend, aber nachhaltig. Wie stark sich die EU verändert hat, zeigte der Flüchtlingsstrom des Jahres 2015. Er hat die Europäische Union tief gespalten und ganz schnell dazu geführt, dass die Europäische Union die Schotten dicht gemacht und wichtige Grundprinzipien über Bord geschmissen hat. Sie hat sich als eine „Union“ demaskiert hat, die geistig und kulturell auf das Niveau einer schlecht durchdachten Freihandelszone gefallen ist. Das ist das Menetekel für eine seit Jahren verfehlte Integrationspolitik. Schon vor der Osterweiterung litt die Europäische Union unter einer einseitig wirtschaftlichen Orientierung. Mit der Osterweiterung vergrößerten sich nicht nur die Unterschiede der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Arbeits- und Sozialsysteme, sondern vor allem die kulturellen Differenzen massiv. Durch die Osterweiterung ist inzwischen vollends eine Union entstanden, die weitgehend auf einen großen Wirtschaftsraum mit globalem Geltungsdrang reduziert ist. Das macht die Europäische Union noch nicht einmal wirtschaftlich stark. Die Europäische Union und ihre Eurozone sind nicht der Wachstums und Innovationsmotor geworden ist, der angestrebt wurde und wird – von dem selbstgesteckten Ziel, die stärkste wissensbasierte Volkswirtschaft der Welt zu werden, ist Europa weit entfernt.

Im Zuge dieser Entwicklung hat sich die EU immer weiter von ihrer ursprünglichen Marke entfernt ohne jedoch eine neue, adäquate Marke an ihre Stelle zu setzen. Was sie hat, ist ein diffuses Profil und ein nicht weniger diffuses Image. Das nährt diffuse negative Strömungen und populistische Bewegungen gegen die EU, aber auch viel Skepsis und Enttäuschung bei ihren Anhängern. Das Image der EU ist selbst bei überzeugten Europäern zwiespältig.

Die Profillosigkeit der Europäischen Union liegt auch an ihren institutionellen Strukturen. Sie hat im Vertrag von Lissabon eine „Verfassung“ geschaffen, die weder funktioniert noch respektiert wird. Sie funktioniert nicht, weil der ursprünglich sinnvolle Elitenkonsens mit wachsender Zahl der Mitgliedstaaten immer häufiger statt eines tragfähigen Elitekonsenses faule Kompromisse produziert – auch wenn es darum geht, die Einhaltung des Lissaboner Vertrages und der grundlegenden Prinzipien der Union einzufordern. Dadurch verliert die EU nicht nur ihr Profil sondern auch ihre Handlungsfähigkeit. Gerade diese Probleme kann sie jedoch nicht wirksam lösen, weil solche Lösungen Einstimmigkeit und damit einen tragfähigen Elitekonsens benötigen. Das europäische Projekt braucht also einen Neustart, der im Rahmen des Vertrags von Lissabon kaum machbar ist. Er wäre vielleicht machbar, wenn eine starke Bürgerbewegung eine neue, alternative Kulturmarke – ein breit akzeptiertes Bild einer neuen EU – etablieren könnte, in deren Gefolge sich im europäischen Parlament und in den Mitgliedstaaten Mehrheiten für eine grundlegende Reform schaffen ließen.

(Dieser Fachbeitrag erscheint im Jahrbuch Kulturmarken 2020)